Université de Lorraine
Espace Rabelais
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Welche Demokratie(n)?

Welche Demokratie(n)? Reflexionen über die Krise, Modernisierung und Grenzen der Demokratie in Deutschland, Frankreich, England und Mitteleuropa zwischen 1919 und 1939

 

A. Projekt

1. Fragestellung

Entsprechend dem antitotalitären Konsens der Nachkriegszeit tendierte die politische Historiographie lange Zeit dazu, die Geschichte und politischen Ideen der Zwischenkriegszeit in ein einfaches binäres Schema einzuordnen und die „Demokraten“ den „Demokratiefeinden“ gegenüberzustellen. Alleiniges Unterscheidungskriterium war demzufolge die Zustimmung zur liberalen parlamentarischen Demokratie oder (im Gegenteil dazu) die Anfälligkeit für „totalitäre“ Ideen. Ein kritischer Rückblick auf die Theorien, Diskurse und politischen Debatten der Zwischenkriegszeit legt hingegen eine weitaus komplexere Lage offen: In den 1920er Jahren war es viel weniger die Demokratie als solche, als vielmehr ihre „liberale“ Interpretation, die in die Krise geriet. In diesem Zusammenhang setzt sich das vom CIERA in Form eines Ausbildungs- und Forschungsprogrammes (PFR) unterstützte und von WissenschaftlerInnen der Universitäten Augsburg, Caen (ERLIS), Lothringen (CEGIL), Reims Champagne-Ardenne (CIRLEP) und Straßburg (Mondes germaniques et nord-européens) sowie des Deutschen Historischen Instituts Paris getragene Projekt „Welche Demokratie(n) ? Reflexionen über die Krise, Modernisierung und Grenzen der Demokratie in Deutschland, Frankreich, England und Mitteleuropa zwischen 1919 und 1939“ zum Ziel, die Zwischenkriegszeit als „a laboratory of discussing a great variety of models of polity and the democratic idea“[1] neu zu beleuchten. Zentraler Ansatz ist hierbei, die in den unterschiedlichen politischen Lagern geübte Demokratiekritik bzw. die jeweils vorgeschlagenen Reformprojekte zu rekonstruieren, sie in ihren historischen, ideologischen und soziokulturellen Kontext einzubetten und ihre politische und gesellschaftliche Tragweite zu hinterfragen. Der komparatistische Ansatz des Projektes soll es ermöglichen, die Lage in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Zentraleuropa (v.a. in Polen und in der Tschechoslowakei) vergleichend zu untersuchen und zu sehen, inwiefern in den jeweiligen Gesellschaften der reformistische Diskurs und gegebenenfalls das antidemokratische Agitationspotential übereinstimmten, ja zur Herausbildung einer transnationalen Dynamik führten, oder aber aufgrund nationaler Spezifika auseinanderdrifteten.

Dank der transnationalen Fragestellung und des pluridisziplinären Ansatzes ist das Projekt an der Schnittstelle unterschiedlicher Disziplinen, wie der deutschen und britischen Landeskunde, der allgemeinen Geschichte, der Ideengeschichte, der Philosophie, der Soziologie und der Politikwissenschaft, verortet. Die Relevanz dieses Ansatzes ist umso stärker, als Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen und die Tschechische Republik gegenwärtig gleichermaßen von dem Phänomen eines neuen Populismus und einer Infragestellung der „klassischen“ repräsentativen Demokratie betroffen sind und diese Entwicklungen in besonderer Verbindung zur Zwischenkriegszeit stehen. Dieser Vergleich erweist sich als naheliegend und fruchtbar, da «sich über historische Analogiebildungen Phänomene der Gegenwart schärfer fassen und tiefer analysieren [lassen] »[2]. Im Hinblick auf seine gesellschaftliche Relevanz vermag das Projekt folg-lich, ein besseres Verständnis der mit der aktuellen Entwicklung verbundenen Herausforderun-gen zu ermöglichen und einen Beitrag zur Entlarvung des populistischen Plädoyers für eine demokratische Erneuerung zu leisten. Gleichzeitig soll sein starker Aktualitätsbezug insbesondere NachwuchswissenschaftlerInnen ansprechen, die sich inhaltlich und organisatorisch in die unterschiedlichen Veranstaltungen werden einbringen können.

 

2.Methoden

Die Erkenntnis, dass die „Demokratie“ ein Schlüsselbegriff der Zwischenkriegszeit ist, ist einer der wenigen Konsenspunkte der Demokratieforschung. Die umfangreiche Literatur zu den 1920er und 1930er Jahren kann auf eine lange Geschichte zurückblicken und erfreut sich sogar zur Zeit eines neuen Interesses.[3] Ihr Schwerpunkt lag inhaltlich jedoch vorrangig auf der Krise bzw. dem Zusammenbruch der europäischen Demokratien, während sich komparatistische Ansätze methodisch auf direkt vergleichbare Aspekte stützen (Wahlverhalten, Streik, Parteiensysteme, usw.). Dirk Berg-Schlosser bemerkte jedoch 1998, dass der (statistische) Vergleich offenkundige Grenzen aufwies, denn « strictly comparable data are […] difficult to come by. [Therefore] we were often compelled to rely on the qualitative judgments of our country experts ».[4] Umgekehrt kann man jedoch anmerken, dass James Bryce schon 1921 die HistorikerInnen und PolitikwissenschaftlerInnen dazu aufrief, sich für den rhetorischen Aspekt der Politik zu interessieren: „The historian or philosopher must go for his materials to such records as debates, pamphlets, the files of newspapers and magazines, doing his best to feel through words the form and pressure of the facts.“[5] Doch noch im Jahr 2012 bedauerte Jussi Kurunmäki, dass dieser Aufruf ohne Antwort geblieben sei[6]. Genau diese Forschungslücke möchte das Projekt füllen, indem insbesondere die Öffentlichkeitsdiskurse in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Zentraleuropa unter die Lupe genommen und nach Maßgabe dreier Themenkomplexe analysiert werden: Demokratie und Diktatur, Demokratie und Sozialstaat, Verteidigung der Demokratie. Als Quellen werden die parlamentarischen Debatten der betroffenen Länder, die Medien (Presse, Rundfunk …) sowie die monographischen und literarischen Veröffentlichungen jener Zeit herangezogen. Um die na-tionalen Eigenarten der Diskurse und ihre etwaigen Interaktionen zu ermitteln, greift die komparatistische Untersuchung gleichzeitig auf Theorien des Kulturtransfers und der histoire croisée zurück.

 

B. Projektverantwortliche

Pascal Fagot, Universität Straßburg

Frauke Höntzsch, Universität Augsburg

Christian Jacques, Universität Straßburg

Zoé Kergomard, Deutsches Historisches Institut

Annette Lensing, Universität Caen (ERLIS)

Marcus Llanque, Universität Augsburg

Reiner Marcowitz, Universität Lothringen

Stefan Martens, Deutsches Historisches Institut

Thomas Nicklas, Universität Reims-Champagne-Ardenne (CIRLEP)

Christian Roques, Universität Reims-Champagne-Ardenne (CIRLEP)

 

[1]  Marcus Llanque : « The edges of democracy: German, British and American debates on the dictatorial challenges to democracy in the interwar years », in: Jussi Kurusmäki / Jeppe Nevers / Henk van der Velde, eds., Democracy in Europe. A Conceptual History (Oxford / New York : Berghahn, 2018 (i.E.)).

[2]  Elke Seefried, « Die Krise der Weimarer Demokratie – Analogien zur Gegenwart? », Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 40‑42 (4 octobre 2016), S. 18‑23. Vgl. Pascal Blanchard/Farid Abdelouahab, Les années 30 : et si l’histoire recommençait? (Paris, Ed. de La Martinière, 2017); Andreas Wirsching / Berthold Kohler / Ulrich Wilhelm (Hg.), Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, (Stuttgart, Reclam, 2018) et Thomas Raithel (Hg.), « Podium Zeitgeschichte. Wie nah ist uns die Zwischenkriegszeit? Geschichte und Aktualität der demokratischen Staatsgründungen nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, Österreich, Polen, Litauen und der Tschechoslowakei », Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 66 (2018), S. 294-347.

[3] Vgl.. Dieter Gosewinkel, Anti-liberal Europe: A Neglected Story of Europeanization (London: Berghahn Books, 2014); Boris Barth, Europa nach dem Grossen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918-1938 (Frankfurt/Main: Campus Verlag, 2016); Steffen Kailitz (Hg.), Nach dem “Grossen Krieg”. Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939 (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2017); Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus der Zwischenkriegszeit (Berlin: Suhrkamp, 2018).

[4] Dirk Berg-Schlosser, « Conditions of Authoritarianism, Fascism and Democracy in Inter-War Europe », International Journal of Comparative Sociology 39, Nr. 4 (1 janvier 1998), S. 33577, https://doi.org/10.1163/002071598X00215.

[5] James Bryce, Modern Democracies. Vol. 1, vol. 1, 2 vol. (London: Macmillan & Co., Ltd, 1921)., S. 17.

[6] Jussi Kurunmäki, « The Lost Language of Democracy: Anti-Rhetorical Traits in Research on Democratisation and the Interwar Crisis of Democracy », Res Publica: Revista de Filosofía Política 15, Nr. 27 (2012), p. 121‑130.